Hunderte von Affen bevölkern den Qianling-Park in Guiyang, der Hauptstadt der Provinz Guizhou. Die Stadt ist das Zentrum der chinesischen Big Data Experimental Zone. (Bild: Mauritius)

Hunderte von Affen bevölkern den Qianling-Park in Guiyang, der Hauptstadt der Provinz Guizhou. Die Stadt ist das Zentrum der chinesischen Big Data Experimental Zone. (Bild: Mauritius)

In Chinas Südwesten gedeiht der gläserne Mensch

Vergangenheit und Zukunft prallen in der Provinz Guizhou aufeinander. Peking hat den rückständigen Landstrich zur Big Data Experimental Zone erklärt. Der Wandel ist schwindelerregend.

Manuela Kessler
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Der Regenbogen ist in dieser zerklüfteten Karstlandschaft sozusagen zu Hause. Nebel und Wolken hängen oft zwischen den pittoresken Bergkegeln, die sich schroff auftürmen und abfallen wie in der chinesischen Tuschmalerei. Die Flüsse schlängeln sich zwischen den Hügelketten hindurch, die sich aneinanderreihen bis an den Horizont. Da und dort sind sattgrüne Reisterrassen in die steilen Hänge gemeisselt, schmiegen sich Dörfer in die Flanken und Täler.

Im Freizeitpark Oriental Science Fiction Valley in Guiyang befördert die Virtual-Reality-Attraktion «Explore the Stars» die Besucher für einen Moment in andere Welten. Dauerhaft ist hingegen das Bestreben von Staat und Wirtschaft, die realen Informationsflüsse der Menschen zu erfassen. (Bild: Joseph Campbell / Reuters)

Im Freizeitpark Oriental Science Fiction Valley in Guiyang befördert die Virtual-Reality-Attraktion «Explore the Stars» die Besucher für einen Moment in andere Welten. Dauerhaft ist hingegen das Bestreben von Staat und Wirtschaft, die realen Informationsflüsse der Menschen zu erfassen. (Bild: Joseph Campbell / Reuters)

Reisbauern bei der Arbeit auf einem Feld in Qiannan in der Provinz Guizhou. Im Südwesten Chinas treffen Tradition und Moderne hart aufeinander, was intensive Kontraste schafft. (Bild: Reuters / Stringer)

Reisbauern bei der Arbeit auf einem Feld in Qiannan in der Provinz Guizhou. Im Südwesten Chinas treffen Tradition und Moderne hart aufeinander, was intensive Kontraste schafft. (Bild: Reuters / Stringer)

Ein Sprichwort besagt, dass man in der Provinz Guizhou alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben könne. Ein anderes, dass es hier keine drei Fuss flachen Landes, keine drei Tage ohne Regen und keinen Menschen mit drei Yuan gebe. Ein drittes, dass die Menschen hier ohne Reiswein nicht wüssten, wie glücklich sie sind.

Billy Zhang, der uns die Tür zu dieser Welt öffnet, drückt es prosaischer aus: «Wenn der Himmel in meiner Kindheit einmal strahlend blau war, setzte meine Mutter mich draussen nackt auf einen Stein und suchte mich nach Läusen ab.» Er erzählt von bitterer Armut, einer Mahlzeit pro Tag und manchmal solchem Hunger, dass seine Familie Ratten ass. Der Vater zog in der Not nachts los, um Fische – angelockt von einem glimmenden Harzstück – mit blosser Hand zu fangen. Nur eine seiner fünf Schwestern habe die Schule besucht.

Der drahtige Mittvierziger mit Cowboygang ist ein Miao. Das Bergvolk, das auch in den Bergen von Vietnam, Laos und Thailand heimisch ist und dort Hmong geheissen wird, bildet die grösste Minderheit in der Provinz Guizhou, die ungefähr viermal so gross ist wie die Schweiz, flächen- wie bevölkerungsmässig. Die Miao und ein Dutzend andere ethnische Minderheiten – von den Yao über die Dong bis hin zu den Buyi – machen gut einen Drittel der Bevölkerung aus (nur in Tibet und Xinjiang, wo die Uiguren heimisch sind, ist der Anteil noch grösser). Ein Zehntel der 36 Millionen Einwohner kann weder lesen noch schreiben. Die Provinz im Südwesten Chinas war vor vier Jahren denn auch noch die ärmste des Landes, mit einem Pro-Kopf-Einkommen von jährlich 4297 Yuan, umgerechnet 615 Franken.

Der Schlüssel zur Revolution

Die Tradition wird von den Bergvölkern seit je mündlich weitergegeben, wie Billy Zhang erläutert. Die Natur gilt ihnen als beseelt. Guizhou ist ein Landstrich der Mythen und Legenden, wo Geister hinter Felsvorsprüngen oder unter Bananenstauden lauern. Der grösste Mythos von allen aber ist Mao Zedong und die grösste Legende jene vom Langen Marsch.

Sechs der zehn höchsten Brücken der Welt erheben sich heute in der chinesischen Provinz Guizhou. Das Bild zeigt die Autobahnbrücke über den Fluss Yachi, die mit einer Höhe von 434 Metern auf Platz 4 rangiert. (Bild: Yang Yang / Keystone)

Sechs der zehn höchsten Brücken der Welt erheben sich heute in der chinesischen Provinz Guizhou. Das Bild zeigt die Autobahnbrücke über den Fluss Yachi, die mit einer Höhe von 434 Metern auf Platz 4 rangiert. (Bild: Yang Yang / Keystone)

Das kam so: Die Rote Armee war im Bürgerkrieg von den Streitkräften Tschiang Kai-scheks in Südchina eingekesselt, als sie im Oktober 1934 die feindlichen Linien durchbrach und sich durch einen Gewaltmarsch in schwer zugängliches Gebiet zu retten suchte. Rund 90 000 Soldaten brachen auf, nur 7000 von ihnen erreichten nach 12 500 Kilometern ein Jahr später das Ziel in Yan’an, in Nordwestchina, wo sie ihre kommunistische Basis errichteten.

So zumindest ist es in die chinesische Geschichte eingegangen. Die Oberkommandierenden liessen sich über weite Strecken auf Bettgestellen tragen. Den wichtigsten Zwischenhalt – etwa auf halber Strecke – legten die roten Truppen in Guizhou ein. An der Konferenz in Zunyi, einer grauen Stadt im Nordwesten der Provinz, geisselte Mao die bisherige Kriegsführung und stieg zum neuen Führer auf. Zunyi markierte die Abkehr von der Doktrin der Kommunistischen Internationale, die auf eine Revolution der Arbeiter setzte, hin zu den Bauern und zur Guerillataktik. Es war der Schlüssel zum Erfolg, zur Revolution, die zur Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 führte. Mao und Genossen stiessen darauf mit Maotai an, dem hochprozentigen Schnaps aus dem gleichnamigen Ort in Guizhou.

Ein Besucher der China International Big Data Industry Expo, die im Mai 2017 in Guiyang stattfand. Rund 9000 Unternehmen beschäftigen sich in der Provinz mit Internet, Online-Business und Big Data. (Bild: Reuters / Stringer)

Ein Besucher der China International Big Data Industry Expo, die im Mai 2017 in Guiyang stattfand. Rund 9000 Unternehmen beschäftigen sich in der Provinz mit Internet, Online-Business und Big Data. (Bild: Reuters / Stringer)

Zwei Frauen der enthnischen Minderheit der Miao im Februar 2017 beim traditionellen Tiaohua-Fest. In den Berggebieten leben viele Menschen noch so, wie sie es von den Vorfahren übernommen haben, wobei sich an Details wie den Schuhen der Trend zur Moderne ablesen lässt. (Bild: Kevin Frayer / Getty Images)

Zwei Frauen der enthnischen Minderheit der Miao im Februar 2017 beim traditionellen Tiaohua-Fest. In den Berggebieten leben viele Menschen noch so, wie sie es von den Vorfahren übernommen haben, wobei sich an Details wie den Schuhen der Trend zur Moderne ablesen lässt. (Bild: Kevin Frayer / Getty Images)

Die revolutionäre Geschichte, sie spielte in Peking vor fünf Jahren wahrscheinlich mit beim Entscheid, Guizhou zum nationalen Daten- und Online-Zentrum zu entwickeln. Staats- und Parteichef Xi Jinping will China zur «Cybermacht» formen. Er hat die Nation dazu aufgerufen, den «Expresszug des Internets zu besteigen». Es gibt kein Halten mehr. Die von Peking und Schanghai mehr als anderthalbtausend Kilometer entfernte Provinz wurde 2016 zur nationalen Big Data Experimental Zone erklärt. Wo einst Kohle abgebaut wurde, bohren IT-Konzerne wie Apple, Tencent und Huawei jetzt Tunnel für Datenzentren in die grünen Hügel um die Provinzhauptstadt Guiyang. Das lausige Wetter ist ein Bonus: Es hilft, den Stromverbrauch für die Klimatechnik in Grenzen zu halten.

Der gläserne Chinese

Rund 9000 Unternehmen beschäftigen sich heute in der Provinz mit Internet, Online-Business und Big Data. Nicht alle sind aus eigenem Antrieb in Guizhou. Apple zum Beispiel, das grösste börsenkotierte Unternehmen der Welt, wurde von der chinesischen Regierung vor die Wahl gestellt, entweder alle iCloud-Daten seiner chinesischen Kunden in der Volksrepublik zu speichern oder aber auf das Geschäft in dem 1,4 Milliarden Einwohner zählenden Land zu verzichten. Der amerikanische Konzern hat gekuscht. Die Daten und die kryptografischen Schlüssel dazu werden jetzt von einem Joint Venture von Apple und dem chinesischen Staatsbetrieb Guizhou-Cloud Big Data Industry verwaltet.

Zur Feier des Chinese Lunar New Year hängt dieser städtische Angestellte in Guiyang eine Vielzahl traditioneller Laternen an einen Pfahl. Das Bild entstand am 17. Januar 2019. (Bild: Reuters / Stringer)

Zur Feier des Chinese Lunar New Year hängt dieser städtische Angestellte in Guiyang eine Vielzahl traditioneller Laternen an einen Pfahl. Das Bild entstand am 17. Januar 2019. (Bild: Reuters / Stringer)

Klebreis wird zum Trocknen an Holzgestellen aufgehängt. In ländlichen Zonen ist der Alltag noch wenig modernisiert, Landwirtschaft und Handarbeit dominieren. Ein Zehntel der 36 Millionen Einwohner in der Provinz kann weder lesen noch schreiben. (Bild: Manuela Kessler)

Klebreis wird zum Trocknen an Holzgestellen aufgehängt. In ländlichen Zonen ist der Alltag noch wenig modernisiert, Landwirtschaft und Handarbeit dominieren. Ein Zehntel der 36 Millionen Einwohner in der Provinz kann weder lesen noch schreiben. (Bild: Manuela Kessler)

Das ist heikel, denn einen Datenschutz, der den Namen verdient, gibt es in China nicht. Die Behörden haben leicht Zugriff auf die Datensammlungen der Unternehmen. Und in Guizhou teilen sie ihre Datenmassen, Big Data, auch bereitwillig mit privaten Unternehmen. Erfasst und analysiert werden persönliche Eckdaten, Bewegungsprofile, finanzielle Transaktionen, Konsum- und Kontaktmuster – und mit Algorithmen werden diese Daten schliesslich in Beziehung zueinander gesetzt.

Einen Datenschutz, der den Namen verdient, gibt es in China nicht. Die Behörden haben leicht Zugriff auf die Daten der Unternehmen.

So hat zum Beispiel das Startup Xinge Technology unter Einsatz von Drohnen eine 3-D-Karte von Wohnkomplexen entwickelt, die Informationen über die Bewohner der einzelnen Zimmer liefert, die Farbe Rot signalisiert einen verurteilten Straftäter. Und eine Reportage des Deutschlandfunks zeigt, dass die Firma den Behörden auch gerne Empfehlungen gibt, wo sie Überwachungskameras anbringen sollten.

Ganze Viertel sind in Guiyang über Nacht aus dem Boden geschossen. Spiegelverglaste Forschungszentren und gesichtslose Hochhäuser vermitteln den Eindruck einer Retortenstadt. 70 000 Server, so schreibt die «China Daily» begeistert, stünden mittlerweile in der nationalen Sonderzone. Die zweieinhalb Millionen Einwohner der Stadt könnten 180 Dienstleistungen über ein einziges Konto beziehen. Es sei gelungen, die Daten von 54 verschiedenen Ämtern und Instituten zusammenzuführen. Die zeitliche Verzögerung im Internet sei von 30 auf 3 Millisekunden gesenkt worden. Und das Wirtschaftswachstum der Provinz schnellte hoch auf über 10 Prozent, mehr als irgendwo sonst in China.

Irrwitzige Jagd nach Rekorden

Von Guangzhou und Chengdu, den Hauptstädten der Provinzen Guangdong und Sichuan, aus, ist Guiyang heute im Hochgeschwindigkeitszug bequem in vier Stunden zu erreichen. Auch einige der teuersten Autobahnen des Landes – mit Tunnels und Viadukten ohne Zahl – sind durch die Provinz gezogen worden. Sechs der zehn höchsten Brücken weltweit erheben sich heute in Guizhou. Und auch das Autobahnkreuz bei Guiyang sucht weltweit seinesgleichen: Das mehrstöckige Gewimmel von Strassen erinnert an eine extravagante Carrera-Bahn. Und als wäre das nicht schwindelerregend genug, hat Gouverneur Sun Zhigang versprochen, 17 Flughäfen, 4000 Kilometer an Highspeed-Zugstrecken und 10 000 Kilometer Autobahn bis ins Jahr 2020 zu bauen. The sky is the limit – die Entscheidungsträger scheinen es wörtlich zu nehmen.

Ob entsprechender Bedarf besteht, ist eine andere Frage. Nur tröpfchenweise rollen Fahrzeuge über die gebührenpflichtigen Autobahnen. Sie sind auch für die Benutzer sündteuer. Meist sind es bullige SUV made in China mit Marken wie Lynk & Co, Landwind oder Trumpchi. Ein Hauch von Wildem Westen liegt über der Provinz, es ist schwer zu verkennen.

Er geht einher mit Gigantomanie. Die Marktflecken scheinen einander mit Monumenten übertrumpfen zu wollen: Da wird ein riesiger Heldenfries in eine Felswand gehauen, dort einer legendären Schönheit eine 88 Meter hohe Statue errichtet – ein Denkmal scheusslicher als das andere. Und dabei ist auch der Schuldenberg der Provinz so angewachsen wie nirgends sonst in China, wo die Verschuldung insgesamt laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich alarmierende 250 Prozent des Bruttoinlandprodukts überschritten hat.

Eine junge Frau aus der Volksgruppe der Miao nimmt in traditioneller Tracht am Lusheng-Fest in Gulong teil (2017). Die Provinz im Südwesten Chinas war vor vier Jahren noch die ärmste des Landes, holt inzwischen aber in raschem Tempo auf. (Bild: Reuters / Stringer)

Eine junge Frau aus der Volksgruppe der Miao nimmt in traditioneller Tracht am Lusheng-Fest in Gulong teil (2017). Die Provinz im Südwesten Chinas war vor vier Jahren noch die ärmste des Landes, holt inzwischen aber in raschem Tempo auf. (Bild: Reuters / Stringer)

Ein Arbeiter vor einer gewaltigen Roboterfigur, welche die Skyline des Freizeitparks Oriental Science Fiction Valley in Guiyang prägt. Die Provinz wurde 2016 zur nationalen Big Data Experimental Zone erklärt. (Bild: Joseph Campbell / Reuters)

Ein Arbeiter vor einer gewaltigen Roboterfigur, welche die Skyline des Freizeitparks Oriental Science Fiction Valley in Guiyang prägt. Die Provinz wurde 2016 zur nationalen Big Data Experimental Zone erklärt. (Bild: Joseph Campbell / Reuters)

Sobald man von der Autobahn ab und in die Hügel fährt, wird die Fortbewegung allerdings mühsam. Die Strassen winden sich schmal durchs Gelände, werden in der Monsunzeit oft von Bergstürzen verschüttet und sind auch Monate danach nicht immer geräumt. Die Natur ist und bleibt eine Herausforderung in dieser atemberaubenden subtropischen Landschaft. Manche Dörfer sind nur in stundenlangem Fussmarsch zu erreichen. Die traditionellen Holzhäuser werden hier im Winterhalbjahr gemeinschaftlich gebaut – und die Helfer werden im Gegenzug grosszügig verköstigt. Ein Fest.

Und einige Dörfer entziehen sich dem Befehl von oben. Die Leute von Zhongdong zum Beispiel wohnen in einer Höhle, obwohl die Behörden alles versucht haben, sie herauszulocken. Sogar Betonhäuser wurden den Leuten weiter unten am Hang gebaut, wie Billy uns zeigt. Die Geister aber sprachen sich gegen den Umzug aus – über ihr Sprachrohr, einen Schamanen.

Es gibt in Guizhou zwar keinen anderen Gott als die Kommunistische Partei, aber die Bergvölker glauben an Geister.

Es gibt in Guizhou zwar keinen anderen Gott als die Kommunistische Partei, aber die Bergvölker glauben an Geister. Und sie suchen den Rat von Medien, die zwischen Dies- und Jenseits vermitteln. Bänder an den Bäumen, Blutspuren von geopferten Tieren auf den Pfaden – die Anzeichen sind in den Dörfern allgegenwärtig. Und in grösseren Ortschaften finden sich auch Schamanen mit Vorzimmern, wo die Hilfesuchenden warten wie andernorts beim Arzt.

Ein Mann, vier Namen

Billy Zhang ist der Erste seines Dorfes, der Englisch gelernt und die Universität besucht hat. «Das habe ich Mao zu verdanken», sagt der Mann mit dem kurzgeschorenen Haar. «Erst die Kulturrevolution hat uns Entwicklung und den Anschluss an die Welt gebracht.» Er meint jene gewalttätige Zeit 1966 bis 1976, als Mao seine parteiinternen Kritiker durch Massenkampagnen auszuschalten suchte – und den Klassenkampf bis in die Familien hineintrug. Drangsaliert wurden vor allem die Intellektuellen, «die stinkende neunte Klasse», wie Mao sie nannte. Mindestens 400 000 Menschen fielen den Foltermethoden in jenen Jahren zum Opfer. Schätzungsweise 17 Millionen Jugendliche wurden aus den Städten aufs Land geschickt.

Reisfelder, die wie in die Landschaft gemeisselt erscheinen, prägen die ländlichen Gebiete der Provinz Guizhou. (Bild: Manuela Kessler)

Reisfelder, die wie in die Landschaft gemeisselt erscheinen, prägen die ländlichen Gebiete der Provinz Guizhou. (Bild: Manuela Kessler)

Billy erinnert sich an einen aus Schanghai in sein Dorf verpflanzten jungen Mann, der sich auf den steilen Feldern so linkisch anstellte, dass er keine Hilfe, sondern eine Belastung war. Schliesslich hätten die Dorfbewohner den Mann aus der Grossstadt gebeten, doch lieber die Kinder zu unterrichten. So habe er lesen und schreiben und die ersten englischen Wörter gelernt, sagt Billy. Auf den Einwand, dass er nur Unterricht erhalten habe, weil die Dorfbewohner die Weisung der Parteifunktionäre missachteten – unter eigenem Risiko –, schaut er überrascht und schweigt.

Der Ungereimtheiten sind viele. Es fängt, um Konfuzius zu bemühen, bei der korrekten Bezeichnung, dem Namen, an. Billy – so hat ihn vor ein paar Jahren einfach ein Tourist genannt, der sich seinen chinesischen Namen Zhang Zhongbiao, den er in der Schule erhalten hatte, nicht merken konnte. Und als dann andere ausländische Touristen aufgrund eines Tripadvisor-Eintrags nach Billy Zhang suchten, realisierte er zunächst gar nicht, dass er gemeint war. Und das ist nur ein Teil der Geschichte.

Nach vier Töchtern habe seine Mutter eine Schamanin um Hilfe gebeten, berichtet unser Reisegefährte. Diese erklärte, um einen Sohn zu bekommen, müsse sie etwas Lebendiges zu sich nehmen. Es fanden sich zwei Spinnen, die in Reiswein getunkt wurden. «Wenn du dieses Glas mit zwei Spinnen trinkst, bekommst du zwei Söhne», versprach die Schamanin. Die Mutter schaute sich die haarigen Spinnen an und entschied, ein Sohn genüge. Als ein Jahr später tatsächlich ein Stammhalter geboren wurde, durfte die Schamanin ihm zum Dank den Namen geben. Sie nannte ihn Ye, Stein in der Sprache der Miao.

Hunde gelten als Delikatesse

Allein, der kleine Junge weinte wochenlang, vielleicht litt er an Koliken, so dass die Mutter erneut die Schamanin aufsuchte. Diese steigerte sich in eine Trance hinein und liess den Geist des Grossvaters aus ihrem Mund sprechen: Der Name sei falsch, der langersehnte Junge sei doch der Himmel, Vai. So, sagt unser Begleiter, werde er von der Familie und von Freunden genannt.

Es ist, mit anderen Worten, kompliziert. Wie nur sind die Parallelwelten in Guizhou miteinander in Einklang zu bringen, die im Kopf einfach nicht zusammenzubringen sind? Es bleibt ein Geheimnis.

Allein die 9,5 Millionen Miao in Südwestchina zerfallen in drei Dialekt- und insgesamt 86 Untergruppen, die sogar Vai nicht alle voll versteht. Die Traditionen sind lokal, die wenigsten Bergbewohner kennen die Welt jenseits ihres Distrikts. Die Ausflüge beschränken sich üblicherweise auf stundenlange Fussmärsche zu den Wochenmärkten – mit der Ware an Tragstangen.

Zwei Frauen vom Volk der Dong klopfen den traditionellen Indigo-Stoff weich. (Bild: Manuela Kessler)

Zwei Frauen vom Volk der Dong klopfen den traditionellen Indigo-Stoff weich. (Bild: Manuela Kessler)

Die Libo-Rongjiang in der Provinz Guizhou Province. Die neu erbaute Schnellstrasse ist 67 Kilometer lang und führt durch eine imposante Landschaft. (Bild: Xinhua/Tao Liang / Imago)

Die Libo-Rongjiang in der Provinz Guizhou Province. Die neu erbaute Schnellstrasse ist 67 Kilometer lang und führt durch eine imposante Landschaft. (Bild: Xinhua/Tao Liang / Imago)

Da sind zum Beispiel die rund 5000 Langhorn-Miao, die an Festtagen riesige Perücken tragen: Wollbahnen, zusammengesponnen aus den Haaren von Ahnen und Tieren, werden dafür um ein Tierhorn oder eine Holzsichel geschlungen. Oder die Gulong-Miao, deren glänzende Festtagstrachten mit Schweineblut und Eiweiss gefärbt und über mehrere Frauengenerationen bestickt wurden mit grossblättrigen Blumen, knopfäugigen Wesen und geometrischen Mustern. Völkerkundemuseen und Sammler rund um die Welt reissen sich um die einmaligen Kleidungsstücke, weshalb an Festtagen zunehmend maschinell gefertigte Trachten zu sehen sind.

Die Küche der Bergvölker ist rau wie ihr Leben. Im Sommerhalbjahr arbeiten sie mehr oder weniger durch, in der kühleren Jahreszeit hauen sie auf den Putz.

Nicht weniger spektakulär ist der Schmuck. Die Eltern von Mädchen, so verlangt es die Tradition, sollten ab der Geburt für Silberschmuck sparen. Insbesondere das Putzwerk auf dem Kopf sieht je nach Untergruppe unterschiedlich aus und reicht von Haarnadeln, an deren Ende Vögelchen sitzen, bis hin zu Hauben, voll behängt mit feinen Blättern. Und das Ganze wird womöglich noch gekrönt mit einem Aufsatz in Form zweier Hörner oder eines Baums. Bis zu zehn Kilogramm wiegt der Kopf- und Halsschmuck, unter dem ledige Frauen an Volksfesten zur Brautschau stehen. Wasserbüffelkämpfe laden zu Wetten ein. Und die Hundekadaver liegen reihenweise zum Zerhacken und zum Verzehr in scharfsaurer Suppe aus.

Die Küche der Bergvölker ist rau wie ihr Leben in dieser Landschaft. Im Sommerhalbjahr arbeiten die Leute mehr oder weniger durch, da haben sie weder Energie noch Zeit zum Feiern. In der kühleren Jahreszeit hauen sie dafür auf den Putz. Wir besuchen ein kleines Erntedankfest, das im jährlichen Turnus zwischen drei Dörfern stattfindet und zu dem die Frauen ihre Trachten in überdimensionierten Taschen mitbringen und nur bei trockenem Wetter überhaupt anziehen für einen kurzen Ringelreihen. Und wir besuchen grosse Volksfeste mit Zehntausenden von Besuchern, die dem beliebtesten Musikinstrument der Miao, der aus fünf oder sechs Bambuspfeifen bestehenden Lusheng, gewidmet sind. Die trötende Musik, am ehesten vergleichbar mit dem Klang der Dudelsäcke, wird hopsend zelebriert, so dass die Röcke fliegen und der Schweiss fliesst.

Und zum Übernachten fahren wir dann in eine Stadt, die sich wie aus dem Nichts zwischen den Hügeln erhebt – und wo wir bereits auf der Einfallstrasse von Überwachungskameras erfasst werden. Anshun zum Beispiel, einst Umschlagplatz des von den Bergvölkern angebauten Opiums, heute ein Zentrum der chinesischen Luftfahrtindustrie. Der neue chinesische Kampfjet FTC-2000 G mit einer Reichweite von 2400 Kilometern, der drei Tonnen Bomben, Raketen oder Missile zu transportieren vermag, wird hier gebaut.

Das Dorf Zhongdong befindet sich in einer grossen Höhle und ist nur zu Fuss erreichbar. Einen Umzug in zur Verfügung gestellte moderne Häuser lehnen die Bewohner ab. (Bild: Manuela Kessler)

Das Dorf Zhongdong befindet sich in einer grossen Höhle und ist nur zu Fuss erreichbar. Einen Umzug in zur Verfügung gestellte moderne Häuser lehnen die Bewohner ab. (Bild: Manuela Kessler)

Bei aller Wildheit – wir werden wie Objekte in einem gigantischen Logistikunternehmen bewegt und verfolgt. Der Pass dient der eindeutigen Identifizierung beim Kauf eines Zugbilletts, beim Buchen eines Hotelzimmers und selbst beim Lösen eines Eintrittstickets zu Freiluftmuseen. Ohne geht gar nichts. Und damit alle Informationen schön eindeutig bleiben, ist es in China nicht möglich, zwei Hotelzimmer für dasselbe Datum zu buchen – etwa, weil man sich noch nicht sicher ist, wo man genau sein wird. Die Registrierung ausländischer Gäste ist dem Vernehmen nach so aufwendig, dass viele Hotels lieber auf die Fremden verzichten.

Die «Great Firewall» blockiert Google, Yahoo und Twitter, Whatsapp, Facebook und Youtube. Aber dafür gibt es WeChat

Die «Great Firewall» blockiert Google, Yahoo und Twitter, Whatsapp, Facebook und Youtube. Aber dafür gibt es WeChat, das die Funktionen eines Messaging-Dienstes mit den Möglichkeiten von Facebook, Uber, Booking.com und Lieferando vereint und das bargeldlose Bezahlen fast überall ermöglicht. Das ist praktisch für den Benutzer wie für die Staatssicherheit. Kaum jemand zahlt im Supermarkt um die Ecke mehr bar – auch wenn die Tagelöhner, die davor mit ihren Werkzeugen, Latten und Rohren stehen, vielleicht ein anderes Bild vermitteln. Bereits wird getestet, ob sich WeChat auch als elektronischer Sozialversicherungs- und Personalausweis eignet.

«Die Jungen schwärmen in die Stadt wie die Fische nachts zum Licht», sagt Vai auf der nächsten Fahrt in die Berge unvermittelt. «Meine Welt ist am Verschwinden.» Am Rückspiegel des Autos baumelt derweil ein goldenes Herz, das Mao Zedong zeigt wie einen jungen Gott, schlanker und attraktiver, als er je war.